Es
ist mir nicht
möglich, nachzuweisen, ob Raffael mit diesem Schema
gearbeitet hat. Aus kunstgeschichtlichen Untersuchungen
zu späteren
Werken, z.B. der sog. Schule
von
Athen kann man nur analoge Schlüsse ziehen,
nämlich, dass
Raffael, typisch für seine Zeit, sehr viel von Zahl und
Maß5
gehalten hat. In der augenscheinlichen Koinzidenz des
Madonnenbildes
mit dem Kosmosschema, ergibt sich jedenfalls, wie
dargelegt, eine
Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem.
Legt man das Kosmosschema der Bildkomposition Raffaels zugrunde, scheint es nun, als bilde das Gemälde eine Spur, die uns an etwas Außerbildlichem, an etwas Unsichtbarem teilhaben lassen soll. Wir sehen vordergründig eine schöne Frau in lieblicher Landschaft mit Kindern. Die Spur führt aber zu transzendierender Schönheit. Die Kinder spielen nicht nur unter fürsorglicher Aufsicht einer Mutter, sondern sind Zeichen für die Verbindung von Körper und Seele. Läßt sich ein methodischer Ansatz versuchen und kann man auf diese Weise Raffaels angenommener Notwendigkeit folgen und erfahren, ob und wie in einer sozusagen "surrealen Gemeinschaft" (P. Sloterdijk)6 spätere Generationen darauf reagiert haben? Was hat Raffael eigentlich getan, indem er diese Madonna im Bewusstsein eines übergeordneten Paradigmas, eines Denkmusters malte? Wo im Kosmosschema Linien und Worte waren, hat Raffael Flächen und Farben gesetzt und dennoch gelten die Linien und Worte, denn letztere bilden die im christlichen Abendland verbindliche Denknotwendigkeit. Wir sehen die Naturdinge und erblicken nun durch ihr Maße und Grenzen ihre bedeutsamen Bezüge, so dass sie zu Erscheinungen eines Verwandlungsvorgangs werden, der dem anteilnehmenden (s.o.2) Bildbetrachter einen Weg weist. Hier beginnt jedoch auch eine Bilddichotomie, die mit wachsendem Diesseitsinteresse der Renaissance Naturnotwendigkeiten den systemimmanenten Denknotwendigkeiten gegenüberstellt und sich damit von ihnen unterscheidet. |
Raffael
lebte
und arbeitet in Rom. Das Wissen seiner Zeit stand
ihm zur
Verfügung und er hatte die Kraft, dies in
anschauliche Bilder zu
verdichten: Die Lehre des Philosophen Plotin (205
- 270 n.Chr.) als
Fortführung der Lehren des Pythagoras (570 - 510
v.Chr.), nämlich die
Auffassung, dass das allem innewohnende Eine sich
zur Vielfalt der
Erscheinungen stufenweise entfaltet im ewigen
Prozeß der Weltwerdung,
kommt in Raffaels Werk im Blick der Maria zur
Anschauung.
Die Seele des Menschen hat nach Plotin an dem Herabblicken der Weltseele Anteil. Halb ist sie in der Materie befangen und kann sich darin umhertreiben. "Aber auch darin bleibt der Seele, wie allem Weltlichen, die Sehnsucht nach dem Einen, die aus der Erinnerung an ihre Herkunft erwächst", die sie zur Rückkehr veranlaßt. Die Materie ist für Plotin der äußerste Horizont des Herabblickens, die fernste Grenze, die sich die Weltseele selbst setzt.7 - "Das Geniale [in Raffaels Werk] war diese leidenschaftliche Offenbarung der Sichtbarkeit. Aber ihre künstlerische Darstellung brauchte eine gesetzliche Sicherheit, die von Zufall und Willkür befreite, und das erregendste künstlerische Erlebnis der Zeit war die Entdeckung, daß der Erscheinung der Schönheit überall eben eine solche Gesetzlichkeit zugrunde liegt, jene Entdeckung des Pythagoras, dass die unfassbare Schönheit und Süße der musikalischen Harmonie sich als ein ganz einfaches mathematisches Verhältnis erklären und fassen läßt. Die Gesetzlichkeit der Natur galt es zu finden, dann konnte man sie nachahmen und schaffen wie sie, Gottes ewige Werke nachahmen, seine Schöpfertätigkeit, wie Michelangelo sagte".8 Wie hört sich das an? Für seine Zeit neu und für den Ansatz der vorliegenden Arbeit interessant, ist die Gleichzeitigkeit der ästhetisch redundanten Bildebene mit der des metaphysischen Systems, einer Weltanschauung mit dem empfindenden Blick, der um die Ambivalenz der Zeichen weiß. Der zeitgenössisch Betrachtende, bewußt an der Grenze von Gewußtem und Sichtbarem, nahm Teil am Bildkörper, indem er wahrnehmend diesen wieder zurückverwandelte in das verborgene Gesetz, wodurch dieses im ewigen Wechsel w i r d. Die bewusstseinserweiternde Qualität |
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5 "Aber du hast alles
eingerichtet nach
Maß, Zahl und Gewicht" Weisheit Salomos, 11, 21 6 Peter Sloterdijk, ohne Quellenangabe |
7 Wilhelm Weischädel: Die
philosophische
Hintertreppe, dtv.-Verlg., München, 28. Auflg. 1998, S. 75f. 8 Hermann Nohl: Wilhelm Dithey - Ein Traum, Verlg. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 4.Auflg. 1981 |